sábado, 15 de mayo de 2010

Was es bedeutet, deutsch zu sein

Von Christoph Stölzl 10. September 2005, 00:00 Uhr .
Die Umfrage der WELT zeigt: Am meisten stolz sind die Deutschen auf die Meinungsfreiheit, den Wiederaufbau, das Grundgesetz und die Wiedervereinigung

Anima naturaliter christiana est, hat der römische Theologe Tertullian einst gemeint. Sagen wir einmal statt "christlich" "abendländisch" oder, politisch ganz korrekt, "europäisch". Halten wir ferner die historische Binsenweisheit fest, daß die Freiheit des Individuums die zentrale europäische Errungenschaft ist. Und schon können wir angesichts der erstaunlichen Kongruenz der Ergebnisse bei der europäischen Mentalitätserforschung dem karthagischen Kirchenvater Prophetie bis in unsere Tage attestieren. Denn was steht bei den Briten wie den Deutschen an erster Stelle der nationalen Identifizierung? Die Freiheit, seine Meinung öffentlich frei äußern zu können. Und auch der zweite Punkt in der Sympathieskala handelt ja auf verwickelte Weise vom Triumph der Freiheit über die Unfreiheit: Die Briten sind stolz auf ihren Sieg über das Nazi-Reich der Unfreiheit. Die Deutschen sind stolz auf das, was nach 1945 ihre freiheitliche Antwort auf die destruktive Tyrannis gewesen ist: Wiederaufbau und Grundgesetz, in dessen Zentrum die Würde des Menschen steht. Und daß 1989, anders als 1945, auch ein eigener, deutscher Sieg der Freiheit über die Unfreiheit gelang, friedlich und ohne Blutvergießen, paßt spiegelbildlich gut zur Freude der Briten an ihrer Nationaleigenschaft des "fair play". Daß die Deutschen dann auch noch den Hanseaten Helmut Schmidt, typologisch sicherlich den britischsten unter den deutschen Kanzlern, zum besten Repräsentanten kürten, rundet das Bild nur ab.
Die Deutschen, eine moderne europäische Nation, im Frieden mit sich selbst, stolz auf die jahrhundertlange Rolle als Ideenschmiede des Kontinents. Die Deutschen, stolz auf Goethe und Albert Einstein, zur Überraschung der Kulturkritik viel weniger interessiert an den Stars des Sports und der Popkultur. Die Deutschen, lernend in ihren "guten Schulen", ob mit oder ohne "Kopfnoten" für Fleiß und Betragen. Die Deutschen, fleißig und gründlich; man hat es ihnen immer nachgesagt, warum sollen sie selbst daran zweifeln?

Fahren nicht auf der ganzen Welt die automobilen Produkte solcher fleißigen Gründlichkeit herum? Tüchtig sind sie, die Deutschen, aber eben nicht nur, glauben sie, bloße Ellbogenmenschen werden sie dennoch nicht. Sie halten sich vielmehr für gerechtigkeitsliebend, wozu ihr Sozialstaat der schönste Beweis ist. Man weiß: Die Deutschen reisen durch die Welt wie fast keine andere Nation, aber nicht etwa deshalb, weil es ihnen zu Haus nicht gefällt. Sie lieben ihre Landschaften. Sie lieben ganz einfach ihr Land, so wie es ihnen ihr neuer Bundespräsident zum Amtsantritt vorgesprochen hat. Vorbei die Zeiten, wo einer seiner Vorvorgänger spröde gemeint hatte, lieben könne er nur seine Frau.

Man darf neugierig sein, wie die deutsche Kulturkritik auf diese Großwetterlage aus lauter mentalen Hochdruckgebieten reagiert. Harmonie, bürgergesellschaftliche Freude am zivilen Erfolg, Abwesenheit aller militärischer Erinnerungen: Wo bleibt die Selbstwahrnehmung des Problematischen, Düsteren, des langen Schattens der Vergangenheit, wo bleibt der stumme Gast A.H. am Tische des nationalen Schicksals? Und wo sind wenigstens die Konstanten des Pittoresken, die man früher "urdeutsch" genannt hat? Wo deutscher Wald und Schäferhund, wo Burgenromantik und Sauerkraut und Hausmannskost? Da attestieren sich die heutigen Deutschen auch noch, Faust I ("Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist") zum Trotz, ausgerechnet die Höflichkeit zur Nationaleigenschaft!

Scharfsichtige Kenner des Befragungsgeschäfts werden wahrscheinlich bemerken, daß es aus dem Wald so heraustönt, wie man hineinruft. Daß die Fragenden den Befragten viele positive "Bilder" angeboten haben, ist wahr, und wer greift nicht lieber am Büffet nach den angenehmen Speisen als den heiklen. Aber dennoch machte man es sich zu leicht, wenn man das harmonische Selbstbild der Deutschen von 2005 nur für eine demoskopische Konstruktion hielte. Was die Zahlen lehren, ist die Wahrheit: Die Deutschen leben in ihren Gefühlen dort, wo sie eigentlich immer hingehört haben, im Gehäuse der europäischen Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Die heutigen Deutschen sind in den Tiefenschichten ihrer nationalen Mentalität ihren europäischen Nachbarn zum Verwechseln ähnlich. Gerade weil sie die totale Zerstörung ihres Lebenshauses noch so gut erinnern, sind sie gänzlich desinteressiert an anderen Grundwerten als denen, die allen Menschen guten Willens gleich heilig sind. Was an national Eigentümlichem noch übrig ist, daß schleift das große Mahlwerk der kulturellen Globalisierung ab.

Für die politische Pädagogik sollte der exakt gemessene Seelenzustand der Deutschen Anlaß zur kritischen Selbstprüfung werden. Denn nicht nur an den Gedenktagen, die an die Geschichte des bösen Deutschland vor 1945 erinnern, kursieren ganz andere demoskopische Statistiken durch die Öffentlichkeit. In ihnen ist davon die Rede, daß weiterhin die Versuchung zu unfreiheitlichem Denken die kollektive Mentalität bedrohe. Mich würde schon lebhaft interessieren, welche von beiden Demoskopien denn nun den schärferen Röntgenblick in die Seele der Deutschen hat? Vielleicht läßt sich das Rätsel dadurch lösen, daß man das Grundprinzip der Demokratie, die Entscheidungsfindung durch Mehrheitsentscheid, auch in der Mentalitätsforschung ernst nimmt.

Es gibt eine unübersehbare Literatur, die von den "schwierigen" und den "gefährdeten" Deutschen handelt. Es gibt eine verschwindend kleine Literatur, die von den "Stillen im Lande" handelt, von denen, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. Die Extremen sind auffälliger, journalistisch auch interessanter als die Durchschnittlichen. Daß denen, welche den Schritt weg vom Wege des freiheitlichen Common sense getan haben oder vielleicht tun könnten, unter die Arme gegriffen werden muß, notfalls unmißverständlich, das ist das eine. Aber die künstlich wachgehaltene Sorge, all unser demokratisches Leben und Treiben spiele sich auf schwankendem Boden ab, kann endlich ins Archiv deutscher Neurosen abgelegt werden.

Was ist typisch deutsch? Das typisch Menschliche: Stolz aufs gemeinsam Vollbrachte, Freude am Leben, so wie es der Gattung Mensch eingeboren ist: in Freiheit.

Christoph Stölzl ist Historiker und Gründungsdirektor des Deutschen Historischen Museums Berlin.

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